Stationen einer Reise durch Armenien: ein Tagebuch (Teil I/1996)

Armenische Notizen, erste von zwei Folgen

Von Norbert Neininger, Eriwan

Mit 600 000 Armeniern ist sie vor brandschatzenden aserbaidschanischen Horden geflohen und lebt nun in einem Heim in Armenien.

Donnerstag – Als die Iljuschin II86 der Armenian Airlines in Paris abhebt, ist sie übervoll, obwohl nur die Hälfte der Sitze von Pasagieren belegt ist. Auf und unter den restlichen Plätzen und in den Gängen stauen sich die Kisten, Koffer, Säcke und Kartonschachteln: Jeder Hohlraum, jede Ecke ist vollgestopft mit Plastik- oder Stofftaschen. Der Frachtraum allein hätte längst nicht ausgereicht, um das Gepäck der 100 Reisenden aufzunehmen. Jeder hat auf jedem Flug nach Armenien Medikamente, Kleider, Lebensmittel, Milchpulver für Säuglinge, Seifen oder Waschmittel dabei, pro Fluggast ein paar Dutzend Kilogramm, und so kommen jährlich 400 000 Hilfsgüter zusammen. Manche Menschen schleppen Computer mit sich, und wieder andere wenigstens Bücher. Beim Einchecken im abgelegensten Terminal des Flughafenlabyrinths von «Charles de Gaulle» waren die Schalter fast hinter den Gepäckbergen verschwunden. «Für die Geburtsklinik von Gumri» stand auf Frachtkisten geschrieben, «Spital Nummer 4 in Erewan» auf andern, und Dutzende von Schachteln trugen einen Kleber mit dem Absender: «Armenische Patrioten» und dem Adressaten «Verteidigungsministerium». Auf dem wöchentlichen Kurs R3 101 mit der ehemaligen Aeroflotmaschine mischen sich farbenfroh gekleidete Auslandarmenier mitarmenischen Staatsbürgern, die Schwarz bevorzugen. Die Nichtarmenier sind meist in humanitärer Mission unterwegs, wie beispielsweise der Schweizer Leonardo Gmuer. Für das kirchliche Hilfswerk Diakonie baut er seit fast acht Jahren Kinderheime und Schulen. Viel später wird er in Eriwan von seiner armenischen Frau begrüsst werden, die er als Dolmetscherin kennengelernt hatte und die ihn in seine neue Heimat Gumri holt, wie das ehemalige Leninakan heute wieder heisst.

Und jener Amerikaner dort im Anzug der Wall-Street-Broker? Was wird er, der unablässig in Akten blättert, wohl in Armenien machen? Tage später wird man ihn wiedersehen und dabei mehr über ihn erfahren.

Doch noch sind wir längst nicht soweit, noch ist der ehemalige Aeroflotjet am Boden, wo die drei Triebwerke warmlaufen. Schön neu sieht die Iljuschin aus; die Armenier haben die betagte Maschine in den Nationalfarben Weiss und Blau gestrichen, aber unter dem frischen Verputz versteckt sich die alte Technik. Kurz nach dem Abheben beginnt wie immer ein Zittern und Beben, das Gepäckstücke purzeln und zartbesaitete Passagiere erbleichen lässt. Doch schon zieht die Maschine einigermassen ruhig ihre Bahn nach Südosten, wo sie nach viereinhalb Stunden Flugzeit gegen zwei Uhr morgens neben dem Ararat auf dem Flughafen der armenischen Hauptstadt Eriwan landen soll.

Dass es diesmal erheblich länger dauert, ist einem Nebelfeld über Eriwan zuzuschreiben. Noch ist der Kontrollturm nicht in der Lage, die Maschinen durch den Nebel zu lotsen. Das soll sich bald ändern, wird doch Frankreich – als Gegenleistung dafür, dass Armenian Airlines Paris anfliegt- den Tower in Eriwan für eineinhalb Millionen Franken ausbauen. Ausweichflughafen ist aber jetzt Sotschi an der russischen Schwarzmeerküste, und dort warten Besatzung und Passagiere in der Maschine meist schlafend sechs Stunden lang aufbessere Wetterverhältnisse. Weit weniger bequem verbringen jene Menschen die Nacht, die vor dem Flughafen in der Kälte voller Besorgnis ausharren, um ihre Verwandten oder Gäste zu begrüssen.

Freitag – Nach einem langen Flug dauern die Gepäckausgabe zwei und die Zollformalitäten weitere vier Stunden. Und dann – es ist jetzt Freitag 16 Uhr in Eriwan und damit 24 Stunden nach dem Start in Zürich – schliessen einen die armenischen Freunde erleichtert in ihre Arme, jetzt werden Pläne für das Begrüssungsessen geschmiedet.

Doch Mike Baronian, der in Schaffhausen lebende Armenier mit kanadischem Pass, bleibt am Flughafen zurück. Der Zoll will gespendete Medikamente zurückbehalten, die das Arabki-Spital dringend braucht, um das Leben nierenkranker Kinder zu retten. Erst als der Gesundheitsminister Ara Babloyan persönlich am Flughafen auftaucht, können die Hilfslieferungen ins Spital gebracht werden.

Wer zum ersten Mal hier ist, dem mag das Strassenbild trist erscheinen, er sieht die vielen baufälligen Häuser und Bretterbuden, vermisst das bunte Treiben und den Glanz europäischer Grossstädte. Doch welch ein Unterschied zu den Jahren zuvor! Im Januar 1989, eine Woche nach dem Erdbeben, lag das Land in Trümmern, waren Schock und Trauer geradezu spürbar, war kein Lachen zu hören und kein Lächeln zu sehen. Verschwunden die «Lebensfülle der Armenier und ihre rauhe Zärtlichkeit», wie sie der Dichter Ossip Mandelstam erlebte. Auf das Erdbeben folgten eine beispiellose Hilfswelle und dann ein Krieg, der noch nicht ganz beendet ist.

Dieser hatte im Hochland Berg-Karabach begonnen, in jenem von Armeniern bewohnten kargen Gebiet innerhalb Aserbeidschans, dem mehrheitlich muslimischen Staat, den einst Stalin aus unterschiedlichsten Volksgruppen zusammengefügt hatte. Der Funke fiel auf Armenien und liess das Nationalbewusstsein auflodern. Hunderttausende forderten im Sommer auf dem Theaterplatz in Eriwan die Unabhängigkeit und den Anschluss Berg-Karabachs an Armenien. Aserbeidschan reagierte mit Pogromen in der Hauptstadt Baku und in den von

Armeniern bewohnten Gebieten von Sumgait. 73 Jahre nach dem Völkermord der Türken an den Armeniern, bei dem ab 1915 eine Million Angehörige des ältesten Christenvolkes der Welt massakriert wurden, brachen die verdrängten Ängste wieder auf. Rund 600 000 Armenier flohen im Sommer 1988 aus Aserbeidschan und überfluteten die Städte Leninakan und Kirowakan, die wenig später vom Erdbeben zerstört wurden. Die aserbeidschanische Minderheiten verliessen Berg-Karabach und zogen aus Armenien weg.

Der Konflikt eskalierte. Aserbeidschan sandte Truppen nach Berg-Karabach, von Armenien unterstützte Freischärler eroberten das Gebiet zurück. Bomben fielen auf die armenische Zivilbevölkerung, und das türkisch-aserbeidschanische Embargo schnitt Ar-menien von der Aussenwelt ab. Erdöl und Erdgas konnten nicht mehr importiert werden.

Die Energiekrise verunmöglichte den Wiederaufbau des Landes. Es gab weder Strom noch Wasser in den Wohnungen, und nachts wurde Eriwan zur Gespensterstadt. Wenige Fenster nur waren durch Kerzenlicht erleuchtet, und die Spitäler mussten mit Generatoren arbeiten.

Sergei und Aschot, die beiden Fahrer und Dolmetscher, haben uns bei vielen Besuchen, auch in jenen Tagen der Angst und Trauer, begleitet. Auf der halbstündigen Fahrt in die Innenstadt erkundigen wir uns nach unseren Bekannten und erfahren, dass der fast 70jährige Hadschigt Stambultsian, einer der Oppositionsführer, nach einem Fenstersturz in einem Spital liegt. Ein Unfall? Im Prinzip ja, sagen uns später Bekannte, aber man kann nie wissen. Wr nehmen uns vor, den alten Freund im Verlauf der Woche aufzuspüren.

Es muss ein milder Winter gewesen sein in Eriwan, tragen doch viele Bäume wieder Aste. Das Kernkraftwerk Medsamor, das nach dem Erdbeben abgeschaltet wurde, ist seit Juni vergangenen Jahres trotz aller Risiken wieder in Betrieb und ergänzt die kleinen Wasserkraftwerke. Aschot, der blitzgescheite studierte Mathematiker, hat nach jahrelanger Arbeitslosigkeit endlich eine Beschäftigung gefunden. Er arbeitet als Elektriker und installiert im Auftrag der Regierung Stromzähler in Privathaushalten. Ist die Energiekrise vorbei? Im Prinzip ja, sagt Aschot, jedermann darf jetzt Strom beziehen, vorausgesetzt, er kann 20 Dollar pro Monant bezahlen. Das ist bei einem monatlichen Durchschnittslohn von 10 Dollar aber nur wenigen möglich, und so bleibt es für die meisten bei einer Stunde Elektrizität täglich.

Die Strasse säumen jetzt weit mehr der aus Brettern gebauten Kioske mit ihrem Angebot von Wodka, Tomaten, Äpfeln, Orangen, Zigaretten, Fischen, Fleisch und Brot. Dort an der Ecke wartet Haradsch mit seinem Grill auf Kunden, die ihm Schweinefleischspiesse abkaufen. Und auch ihm geht es besser als in der Vergangenheit, hat er doch hinter seinem Stand eine kleine Hütte gebaut, die nun Gästen Schutz vor der Kälte bietet.

Samstag – Es sind diese dunklen, grossen Augen, die einen überall begleiten. Bei Anni, die wir im Flughafen kennenlernten, funkeln sie, wenn sie erzählt, wie sie ihr Leben in Los Angeles aufgegeben hatte, um mit anderen Freischärlern an der Grenze Berg-Karabachs Dörfer zurückzuerobern und die von türkischen Offizieren geschulten aserbeidschanischen Soldaten zu schlagen. Die Augen des siebenjährigen Georg strahlen, wenn er die kleinen Geschenke aus der Schweiz entgegennimmt. Sie sollen ihn über seine schwere Herzkrankheit hinwegtrösten. Noch hält ihn sein russischer Herzschrittmacher am Leben, doch die Batterie hätte schon längst ausgewechselt werden müssen, wofür den Eltern das Geld fehlt.

Die Polizist war einer jener Armenier, die von der Schaffhauser Stiftung «Hilfe für Armenien» von Bekannten gehört hatten. Er fand sich – zusammen mit weiteren Hilfsbedürftigen – bei den Besuchern ein, um sein Problem vorzutragen. Die Stiftung wird sich der Sache annehmen und einmal mehr Geld sammeln, um die Operation des kleinen Jungen zu ermöglichen.

Und dann sind da die Augen des kleinen Mädchens im Arabkir-Spital. Sie sind ganz gross und traurig und blicken müde aus einem bleichen Gesicht. Die Achtjährige liegt auf einem Bett, neben ihr surrt der Elektromotor der künstlichen Niere. Vier Stunden dauert die Blutwäsche jeweils, die Kleine ist eine von vier Patienten, die an diesem Morgen behandelt werden. Die einzige Dialysestation für Kinder in Armenien wurde von einem Schweizer Arzt, Dr. Jean-Pierre Bernhard, mit grossem Engagement aufgebaut und wird von seiner Stiftung getragen. 80 000 Dollar wurden investiert, doch die Zukunft ist auch hier ungewiss, man kann den Betrieb aufrechterhalten, solange Spendengelder aus der Schweiz fliessen und die Cilag AG Schaffhausen die benötigten Medikamente schenkt.

Mit 21 Prozent Inflation steigen auch die Wohnungspreise in Eriwan rasant. Grossfamilien leben in Zweizimmerwohnungen. Eltern und Grosseltern sind bei ihren Kindern, um überleben zu können. Hier kostet eine Einzimmerwohnung 8000 Dollar, dort gar 10000, und in der Innenstadt kann’s noch teurer sein. Sergei und Aschot haben Wohnungen ausgesucht, aus denen die Schaffhauser Stiftung eine auswählen kann, um sie Bedürftigen zur Verfügung zu stellen. Doch noch ist nichts Passendes gefunden.

Besuch bei Kollegen auf der Nachrichtenagentur «Noyan Tapan», die gerade die Internet-Ausgabe ihrer Wochenzeitung redigieren.

Ob es den Armeniern besser gehe als vor einem Jahr? David sagt nein. Haroutiun meint, eher ja, beide aber haben Angst vor einem Sieg der Kommunisten in Russland, was ihrer Meinung nach verheerende Folgen für Armenien hätte. Also auch diesmal keine klare Antwort, und man erinnert sich an die unzähligen «Radio-Eriwan-Witze» nach dem Schema: «Frage an Radio Eriwan: Stimmt es, dass die USA mehr Autos haben als die UdSSR? Antwort an kleines Brüderchen: Im Prinzip ja, doch wir haben mehr Parkplätze.» Und so sind David, Haroutiun und andere sich einig, dass eine autoritäre Regierung, galoppierende Inflation und Scharmützel in Karabach nur bedeuten können, dass Armenien wenigstens im Prinzip auf dem Weg zu Frieden, Freiheit und Wohlstand sei.

Zwischen Krieg und Frieden

Es herrscht kein Krieg mehr in Armenien, aber auch noch kein Frieden. Das türkisch-aserbeidschanische Embargo, verhängt nach dem Ausbruch des Krieges um Berg-Karabach, verhindert einen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Schweizer Bundesrat Flavio Cotti bemüht sich als Vorsitzender der OSZE um eine Einigung zwischen den verfeindeten Nachbarn. Norbert Neininger hat Armenien seit 1988 mehrfach besucht und schildert in zwei Artikeln seine Eindrücke.

Ein Staat mit leidvoller Vergangenheit

Armenien, das früher zur Sowjetunion gehörte, ist heute eine unabhängige Republik. Seit dem 16. Oktober 1991 steht der Nicht-Kommunist Lewon Ter-Petrosjan an der Spitze des Staates. Am 5. Juli 1995 wurden erstmals freie Parlamentswahlen durchgeführt. Der Regierungsblock stellt die überwiegende Mehrheit der Parlamentssitze.

Das Erdbeben

Über sieben Jahre nach dem heftigsten Erdbeben der Neuzeit hat sich das Land noch nicht erholt. Das Erdbeben vom 7. Dezember 1988 verwüstete dicht besiedelte Gebiete. Dabei wurde die zweitgrösste Stadt, Leninakan, mit rund 200 000 Einwohnern zu 80 Prozent zerstört. Völlig zerstört wurde die Kleinstadt Spitak (20 000 Einwohner), die nahe dem Epizentrum des Bebens lag. Schätzungen gehen von 50 000 bis 80 000 Todesopfern aus. Weit über 500 000 Menschen wurden durch das Erdbeben obdachlos.

Der Krieg

Berg-Karabach ist zehnmal kleiner als die Schweiz, wird von 120 000 Armeniern bewohnt, ist von Aserbeidschan umgeben – und Anlass für einen lange dauernden und unerbittlichen Konflikt.

Februar/März 1988: Regierung und Partei von Berg-Karabach beschliessen die Trennung von Aserbeidschan und den Anschluss an Sowjetarmenien.

27. bis 29. Februar 1988: In der aserbeidschanischen Industriestadt Sumgait werden Armenier als Vergeltung für den Aufstand in Karabach ermordet. 350000 Armenier fliehen darauf aus Aserbeidschan nach Armenien. Es folgen weitere antiarmenische Ausschreitungen in Aserbeidschan, und es kommt zum Massenexodus von Armeniern.

September 1989: Aserbeidschanische Boykottmassnahmen gegen Armenien; Armeniens Wirtschaft bricht zusammen.

April bis Juni 1991: 5000 Armenier werden aus 25 Dörfern in Berg-Kara-bach vertrieben, es kommt zu Folterungen und Tötungen. Aserbeidschaner werden angesiedelt.

2. September: Die in Berg-Karabach und im nördlich angrenzenden Gebiet lebenden Armenier erklären diese Regionen zur unabhängigen Republik Berg-Karabach innerhalb der Sowjetunion.

Nach der Auflösung der Sowjetunion beginnen aserbeidschanische Militärangriffe zur Eroberung Berg-Karabachs.

Mai 1992 bis April 1992: In einem zweijährigen Krieg fallen mehr als 25 000 Menschen. Den Aserbeidschanern gelingt es nicht, Berg-Karabach zu erobern. Die Armenier bilden zwei Korridore zwischen Armenien und der Enklave. Im Krieg werden von Aserbeidschan Luftangriffe auf Armenien geflogen. Aserbeidschan setzt geächtete Splitterbomben ein.

Seit Mai 1994: Waffenstillstand, der immer wieder von Scharmützeln unterbrochen wird.

Als schämte sich der Ararat, in der Türkei zu stehen (Reportage von 1996)

Armenische Notizen, letzte von zwei Folgen (1996)

Von Norbert Neininger, Eriwan

Aserbeidschanische Granaten zerstörten die Kirche von Suschi, der alten Hauptstadt von Berg-Karabach. Nach der Wiedereroberung des Gebirgsdorfes durch die Armenier werden sich hier zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Christen zum Gottesdienst treffen.

Sonntag.

Über mindestens drei Dinge weiss jeder Armenier immer etwas zu erzählen: den Genozid an seinem Volk durch die Türken, den Krieg um Berg-Karabach und das Essen. Wer als Fremder nach Armenien kommt, wird ganz selbstverständlich dazu eingeladen, wer als Freund kommt, ohnehin. Das war in den finsteren Zeiten nach dem grossen Erdbeben so, das ist heute noch so, und das wird wohl solange bleiben, wie der Berg Ararat Eriwan überragt. Auch wenn Elektrizität, Wasser und Gas fehlen, zaubern die Hausfrauen Gurken, Tomaten, etwas Fleisch und Kartoffeln her, richten sie den Tisch sorgfältig an und kredenzte der Hausherr, wenn auch nur sparsam, Cognac, Wodka und Fruchtsäfte. Unser Freund Libo Libaridian, Bruder des Präsidentenberaters und ein Beschaffungskünstler mit amerikanischem Pass, hat immer etwas Gemüse und ein paar Fleischstücke in Reserve, die in einem dunklen Sud auf dem Spirituskocher brodelten. Ob im Flüchtlingsheim von Gumri oder im kriegversehrten Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach, überall wurde man mit mehrgängigen Mahlzeiten empfangen. Natürlich stammte dabei manche Zutat aus Büchsenlieferungen von Hilfsorganisationen, und oft bestand der Hauptgang aus fader deutscher Wurstkonserve, unfreiwillig gespendet von irgendeinem kirchlichen Hilfswerk.

Nun sind die kargen Zeiten fast vorbei, jetzt werden die Gäste bewirtet, wie es die armenische Sitten gebieten. Tagelang haben die Frauen im Haushalt die traditionellen Gerichte vorbereitet: Das rohe Gemüse ist geputzt; Wurstscheiben und Basturma, das mit Pfeffer umhüllte Trockenfleisch, und Russische Salate in verschiedensten Varianten sind angerichtet. Nun bringt die Hausfrau Lawasch, das runde und papierdünne armenische Brot. Jeder greift sich einen der Fladen, belegt ihn mit den Zutaten seiner Wahl, fügt Petersilie, Koriander, Kerbel, Estragon oder Basilikum und Chorowatz – das marinierte und grillierte Rinds-, Schweine- und Schaffleisch – bei. Man hat bereits auf eines jeden Gesundheit und Erfolg getrunken, nun folgen Reden über Freundschaft und Treue und die Heimatländer der Gäste und Gastgeber. Nie spürt der Gast, wieviel Mühe es kostete, die Zutaten aufzutreiben, oft haben Nachbarn geholfen, Freunde Geld gegeben, damit Strom wenigstens für einen Abend bezahlt werden kann.

Solche Sorgen plagen unsere heutigen Gastgeber nicht. Gesundheitsminister Ara Babloian hat in sein Haus inmitten der vielstöckigen Wohnblocks geladen. Der populäre Politiker arbeitet noch in seinem angestammten Beruf als Chirurg und betrachtet sein Ministeramt als Nebenbeschäftigung. Aber sogar dies ist seinem 90jährigen Vater, er war ebenfalls Arzt, zuviel der Politik. Ein Mediziner, so sagt er uns auf deutsch, gehöre zu seinen Patienten und nicht aufs politische Parkett. Babloian wurde in Ter-Petrosjans Kabinett berufen, nachdem er sich durch blendende Organisation der Erdbebenhilfe einen Namen geschaffen hatte. Aus dieser Zeit stammen seine Beziehungen mit der Schweiz, einem von 29 Ländern, die im vergangenen Jahr Hilfslieferungen nach Armenien sandten. Es sind aber die westlichen Nationen mit der grössten armenischen Diaspora, die am meisten spenden: Die USA, wo 750000 Armenier vor allem an der Westküsta leben, und Frankreich mit seinen 300000 Armeniern. Verwandte im Ausland sind für die Bewohner des kargen Berglandes überlebenswichtig; sie helfen zum einen direkt, sorgen zum anderen aber vor allem dafür, dass die Stimme Armeniens in der Welt gehört wird.

Angst vor neuem Krieg und Kommunismus

Babloian ist soeben von einem Ministertreffen ehemaliger Sowjetrepubliken aus Moskau zurückgekehrt, und er ist danach davon überzeugt, dass es den Armeniern unter den Staaten im Transkaukasus bald am besten gehen wird. Der 52jährige fürchtet nur zwei Dinge: Die Rückkehr der Kommunisten und einen Krieg. Beides, so meint er, sei möglich. Mit kommunistischen Regimes in Georgien Aserbeidschan sei die Lage bedrohlich genug, eine Niederlage von Boris Jelzin bei der russischen Präsidentschaftwahl hätte schlimme Folgen für Armenien. Gefährlich bleibe auch die Situation in Berg-Karabach, und es sei schwierig, einen offenen Konflikt mit den feindlichen Nachbarn Türkei und Aserbeidschan zu vermeiden.

Dafür setzt sich der Schweizer Bundesrat Flavio Cotti als Vorsitzender der OSZE ein. Er hatte Anfang März versucht, zwischen Aserbeidschan und Armenien zu vermitteln. Als vollkommen unrealistisch weist Ara Babloian Cottis Aussage zurück, bei der Konfliktregelung müsse Aserbeidschans «territoriale Integrität unversehrt» bleiben. Dies könne ja nur bedeuten, dass Berg-Karabach mit seinen Armeniern weiterhin ein Teil des islamischen Staates bleiben müsse. Wer darauf beharre, riskiere Krieg.

Es wird viel und teilweise heftig debattiert an diesem langen Abend, aber auch viel gelacht. Noch nie haben wir einen armenischen Hausherrn gesehen, der Teller aufträgt, Speisen in der Küche holt und beim Abräumen hilft. Für seine Gattin, sie ist ebenfalls Arztin, ist dies eine Selbstverständlichkeit, für andere Armenier höchst ungewöhnlich. Ja, wenn er einmal Minister sei, dann helfe er auch im Haushalt, hatte einmal ein Besucher spöttisch bemerkt, worauf Babloian antwortete, er helfe seiner Frau nicht, weil er Minister sei, sondern er sei Minister geworden, weil er seiner Frau helfe.

Montag.

Seit einem Jahr ist Rita nun Wtwe, ihr Mann starb auf eine Patrouille in Berg-Karabach. Sieben lange Jahre hatte er zuvor – zuerst als Freischärler und dann als Angehöriger einer regulären Truppe – gekämpft. Er, der Musiker, folgte von einem Drang getrieben, jeweils den Rufen seiner Freunde in den Krieg um die Enklave. Die paramilitärischen Verbände sind nach offizieller Lesart ohne Unterstützung der armenischen Armee unterwegs, ja, sie sind jetzt sogar verboten. Mit einer Konsequenz, die er von seinem Vater geerbt hatte, focht er für die armenische Sache. Dass eine Mine sein Leben beendete, ist für Rita schrecklich, doch verteidigt sie ohne Rückhalt seine Überzeugungen. Wie er haben Hunderte ihr Leben verloren, im Kampf für Gerechtigkeit, wie Rita meint. Von der Wtwenrente kann sie nicht leben, sie würde nicht einmal für zwei Kilogramm Brot reichen, und so hat sie sich den Bürokraten gar nicht erst ausgeliefert und hält sich und ihre vierjährige Tochter als Dolmetscherin knapp über Wasser.

Im Flugzeug war uns der Amerikaner, eifrig seine Unterlagen studierend, aufgefallen, – nun treffen wir ihn wieder. Er verfolgt die zweistündige Eröffnungsrede des Präsidenten zum ersten Kongress der armenischen Wirtschaftsführer. Ter-Petrosjan verspricht Deregulierung und bessere Rahmenbedinungen vor allem für Investoren. Jetzt hält es den Amerikaner nicht mehr, er protestiert lauthals: Die Regierung mir ihrer Bürokratie verunmögliche Geldanlagen, er hätte eigentlich Millionen hierher bringen wollen, ziehe aber nun fru- striert von dannen. 70 Prozent Steuern seien zuviel.

Wir hätten ihm gerne einen Anlagetip gegeben, doch Mr. Johnson war nicht mehr geneigt, über Wirtschaftsfragen zu diskutieren, er wurde spät abends noch an der Bar in feuchtfröhlicher internationaler Runde gesichtet. Und so hat er ein sicheres Geschäft mit Renditen bis zu 400 Prozent jährlich verpasst – so schnell wachsen nämlich derzeit die Häuser- und Wohnungspreise. Davon können Mike Baronian und Pino Ciaccio ein Klagelied singen, die für die Schaffhauser Stiftung «Hilfe für Armenien» eine Wohnung kaufen wollen, die Bedürftigen zur Verfügung stehen wird. Seit der Staat die Wohnungen den vormaligen Mietern kostenlos überschrieb, hat ein reger Handel eingesetzt. Wir steigen viele vor Schmutz starrende Treppenhäuser hoch, weichen dabei sorgfältig den bröckelnden Stufen aus und lassen uns die dunklen, feuchten und engen Wohnungen zeigen, deren Preise von Stunde zu Stunde steigen. Meist fehlt der Stromanschluss, oft haben die Fenster kein Glas, und die Leitungen in den Toiletten sind leck.

Eine armenisch-schweizerische Poliklinik in Eriwan

Eine Mutter mit ihrer schwerhörigen Tochter hat uns gesucht und gefunden, sie erhofft sich Hilfe. Das geht so alle Tage: Armenier und Armenierinnen kommen ins Hotel und tragen ihr Anliegen vor, sie haben alle von einem Bekannten oder Verwandten gehört, dass jene wieder im Land sind, die unter anderem Gassenküche, Kinderheim oder Invalidenwerkstätte finanziert haben. Viele Menschen sind krank und haben kein Geld, um Medikamente zu kaufen und einen Arzt aufzusuchen. Es sind Fälle für Dr. Levon Movsessian, der uns zur Verfügung steht und dafür keinen Lohn will.

Dienstag.

Zweiter Besuch im Arabkir-Spital, wo wir Bettina Leumann treffen. Für ein paar Monate nur wollte sie nach Armenien kommen, um die Administration des Arabkir-Spitals aufzubauen, nun ist sie schon drei Jahre in Eriwan und arbeitet noch immer in der Klinik. Die 28jährige koordiniert inzwischen von ihrem winzigen Büro im fünften Stock des Spitalkomplexes aus die Verwendung der Gelder, die aus einer Schweizer Stiftung – in der ihr Vater, Professor Dr. E. Leumann, eine wesentliche Rolle spielt – in das Projekt fliessen. Wenige Tage nach dem Erdbeben hat die Behandlung von nierenkranken Kindern begonnen, inzwischen breitet sich die schweizerisch-armenische Poliklinik über zwei Etagen mit 80 Betten und acht Dialysestationen aus. Bettina und die diensthabende Arztin Irina führen durch die Klinik, wo Müt- ter bei ihren kranken Kindern wohnen, um sie zu betreuen. Denn das Spital stellt – wie in der ganzen ehemaligen Sowjetunion üblich – nur die Betten zur Verfügung. Für Verpflegung, Decken und Bettbezüge oder Handtücher müssen die Angehörigen der kleinen Patienten selber sorgen. An den Dilayseapparaten wird das Blut von Kindern gereinigt, die auf eine Nierentransplantation warten. Nur zwei Spendernieren erhielt das Spital im vergangenen Jahr, beide stammten aus Russland, 19 Nieren wurden seit 1991 hier verpflanzt, und elf Empfanger leben noch. Armenier weigern sich, die Organe verstorbener Angehöriger freizugeben.

Der Armenier Arthur arbeitet in der Public Relations-Abteilung der amerikanischen Botschaft in Eriwan und dürfte der Hauptgrund für Bettinas Umzug nach Armenien sein, haben sich die beiden doch schon wenige Tage nach Bettinas Ankunft ineinander verliebt und leben nun zusammen. Das ist aussergewöhnlich in einem Land, wo oft vier Generationen in derselben Wohnung hausen, sich in der Regel acht, neun oder gar zehn Leute kleine Zweizimmerappartements teilen; eine Lebensnotwendigkeit, kann doch nur so die Miete nicht bezahlt werden. Es entspricht aber auch armenischer Tradition, dass erwachsene Kinder für Eltern und Grossekern sorgen. Wer beispielsweise Hasmig, die schöne kaufmännische Angestellte, heiratet, der heiratet zugleich ihre Eltern, ist die 30jährige doch einziges Kind und wird Vater und Mutter bis an deren Lebensende bei sich haben. Altersheime gibt es keine in Armenien, wer keine Angehörigen hat, findet irgendwo einen Unterschlupf oder landet auf der Strasse.

Mit sanfter Hartnäckigkeit hat uns Bettina Leumann in eines der Waisenhäuser geführt. Es liegt hoch über der Stadt, auf einem der sieben Hügel Eriwans, und 120Mädchen und Buben zwischen zwei und 16 Jahren leben hier auf sechs Säle verteilt. Keiner kann sich diesen Kindern entziehen, die offen auf die Besucher zugehen und für jede Zuneigung dankbar sind. Dort, im Duschraum, sind die Fenster zerbrochen, da fehlen noch solide Betten, und dort hat es kein Spielzeug. Und dennoch ist dieses Waisenhaus, dank vieler Spenden, in einem ordentlichen Zustand. Vor sechs Jahren waren wir zum ersten Mal hier und hatten dort an kotüberschmierte Betten gefesselte Kinder gesehen, nicht weniger als zwei starben allein an unserem Besuchtstag.

Wo ist Hadschigt Stambultsian? Wir bekommen einen Hinweis auf den Aufenthaltsort des Regimegegners. Morgen wisse man mehr…

Mittwoch.

Die Wohnung ist endlich gefunden, Frau Sirvart wird die erste Bewohnerin sein. Sie hat beim Erdbe- ben Mann und Tochter verloren und lebt seither in Spitak in einem unbeheizbaren Blechcontainer. Nun kann sie nach Eriwan ziehen und in menschenwürdiger Umgebung leben. Mike Baronian konferiert mit dem Notar und weiteren Behördenmitgliedern, dann besitzt die Schaffhauser Stiftung «Hilfe für Armenien» ein Zweizimmerappartment in einem der Plattenbauten aus Tuffstein am Rande der Innenstadt.

Und jetzt kennen wir auch Hadschigts Aufenthaltsort, unser Chauffeur Aschot steuert seinen 25jährigen Lada durch den wilden und regellosen Verkehr – Schlaglöchern, Fussgängern, Tramwagen, Hunden, Jeeps und anderen Autos auschweichend -, und wir stehen vor dem Zimmer 205 einer Klinik am Stadtrand. Hadschigt liegt tief in seine Kissen vergraben,-beide Schienbeine und Rippen sind gebrochen, die Wrbelsäule ist gestaucht. Seit 1989 kennen wir den Kernphysiker, der in engster Zusammenarbeit mit der Kirche zuerst gegen die Sojwets kämpfte und nun gegen die Regierungspartei und Ter-Petrosjan opponiert. Er hatte uns nach Berg-Karabach begleitet und in vielen Gesprächen über sein Land informiert. Nun ist zwar sein Körper, nicht aber sein Wlle gebrochen: Die jetzige Regierung bestehe aus korrupten Verrätern an der armenischen Sache, schimpft Hadschigt, die armenische Tradition und die richtigen Werte würden schnödem Mammon geopfert. Von Demokratie könne keine Rede mehr sein, habe doch Ter-Petrosjan nicht nur die patriotische Partei der Daschnaken verboten, sondern verhindere auch jegliche Opposition, und zwar mit verbrecherischen Mitteln.

Für Hadschigt steht fest, dass er Opfer eines Attentates geworden ist. Man habe ein Loch in seinen Balkon gespitzt, durch das er – sieben Stockwerke tief -auf den Erdboden stürzte. Aber er gebe nicht auf: Schon zweieinhalb Monaten liege er hier, ein weiterer Monat werde folgen, und dann gehe der Kampf weiter.

Ter-Petrosjan hat innen und aussen viele Feinde

Nicht nur Hadschigt Stambultsian schimpft über die Regierung, viele Intellektuelle des Landes sehen die Gefahr einer Ditatur. Kritische Journalisten würden verprügelt, Parteien sind teilweise verboten, und die Machtfülle des Präsidenten wächst. Schon, wenden Regierungsmitglieder ein, doch das Land brauche jetzt vor allem eines: Stabilität. Ganz nach chinesischem Vorbild stehe die wirtschaftliche Freiheit im Vordergrund, und erst in zweiter Linie folge die Errichtung einer Demokratie nach westlichem Muster. Dass Ter-Petrosjan, dessen Wiederwahl im September unbestritten ist, sich mit den Nachbarländern Türkei und Iran arrangieren will, nehmen ihm Armenier innerhalb und ausserhalb des Landes übel.

Der letzte Abend ist angebrochen, drei Einladungen ist Folge zu leisten: Sergei und Ashot haben ein Festmahl vorbereitet, und auch Sascha, der Vater des herzkranken Buben, erwartet uns in seiner Wohnung. Endlich ist ein wenig Zeit, Pino Ciaccio zu feiern, geht doch heute seine zwölfte Armenienreise zu Ende. Der Schaffhauser sizilianischer Herkunft ist wie ein Schlüssel zum Herzen der Armenier, die ihn sowohl in eine Freischärlertruppe aufgenommen als auch mit einem armenischem Namen versehen haben: Ciacciosian.

Um fünf Uhr morgens beginnt die Abfertigung am Flughafen, unsere Bekannten sind alle wieder da, haben Geschenke vorbereitet und geben uns Proviant mit auf den weiten Weg. Vier Stunden später sitzen wir in der Maschine nach Paris, es ist ein sonniger, kalter Morgen. Und nun sehen wir zum ersten Mal den Berg Ararat, der die ganze Woche sein Haupt in Nebel gehüllt hatte, als ob sich der heilige Berg der Armenier dafür schämte, nicht auf armenischem, sondern auf türkischem Boden zu stehen.

Sonntagskiosk: Ägypten ist gesetzt, ansonsten haben alle vier Schweizer Sonntagszeitungen eigene Schwerpunkte: Schloter/DNA-Tests für Asylbewerber (Schweiz am Sonntag); SBB Bauen Verkaufsstände (NZZ a S); Terroreltern (Sonntagsblick); Schulen in Platznot (Sonntagszeitung).

Wenn nichts los ist (ausser die Unruhen in Ägypten), setzen die Sonntagszeitungen auf eigene Recherchen und das ist dann – wie heute – ein guter Tag für die Leserinnen und Leser. Grösste Überraschungen: Die Sonntagszeitung fordert den Rücktritt von Bundesräten und beim BLICK scheint der Kampf um die Chefredaktion noch nicht entschieden zu sein. Am meisten (wenn auch kleinere) Scoops hat wieder jene Zeitung mit der kleinsten Redaktion (die Schweiz am Sonntag).

Sonntagskiosk: Themen (unter anderem): Rassismus/Locarno mit Blocher und Feuchtgebieten/Saläre bei den Hilfswerken.

Sonntagskiosk, vier Schweizer Sonntagszeitungen: Zweimal die SBB, ein Seilbahnunfall, Flughafengebühren.

Eis am See…